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Oken und Goethe

von Manfred Zittel




Im Herbst 1807 wurde Oken zum außerordentlichen Professor der Medizin an die Universität Jena berufen, wobei Goethe wesentlichen Anteil an dieser Berufung hatte. Er versprach sich für die Universität und wohl auch für sich selbst einiges von dem aufstrebenden 28jährigen Naturforscher.

In seiner Antrittsvorlesung stellte Oken eine Entdeckung vor, nämlich eine neue Theorie über die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der Schädelknochen, und er ließ diese wichtige Theorie auch gleich drucken. Unglücklicher hätte Okens Start in Jena kaum sein können. Die Fachwelt horchte zwar auf. Aber Goethe - selbst ein leidenschaftlicher Naturforscher - hatte für sich eine ähnliche Theorie entwickelt, ohne sie jedoch bisher zu veröffentlichen. Nun sah er sich durch den Neuankömmling um sein Erstrecht als Entdecker gebracht, und er grollte ihm innerlich sehr, weil er - zu Unrecht - meinte, Oken habe ihm die Idee "gestohlen".

Oken ahnte davon nichts, doch spürte er, dass sich Goethe ihm gegenüber recht zurückhaltend benahm. Allmählich kam es jedoch zu häufigeren Begegnungen zwischen ihnen. Goethe war immer bestrebt, seine Kenntnisse im Gespräch mit hervorragenden Naturforschern zu erweitern. Und da Oken sich an der Universität rasch einen guten Ruf bei Kollegen und Studenten erwarb, wurde er auch für Goethe interessant. Besonders angesprochen mußte er sich fühlen, als Oken mit einer Veröffentlichung seine "Farbenlehre" unterstützte. Goethe gab seine Zurückhaltung auf und bekundete Oken öffentlich seine Gunst, als er ihn beim Weimarer Karneval im Februar 1809 als "Morgenstern" in seinen Maskenzug aufnahm und bei der anschließenden Redoute in seine Nähe zog.

Johanna Schopenhauer schrieb als Beobachterin des Festes am Tag danach über Oken:
"dieser macht jetzt viel Aufsehen und wird recht berühmt."
Dass Oken selbst über diese kaum noch erwartete Entwicklung erleichtert und erfreut war, kann man seinem Brief vom 3. Februar 1809 an den Naturphilosophen Schelling entnehmen: "Mit Goethe stehe ich jetzt so gut, dass ich morgen und übermorgen bei ihm wohnen werde. Er scheint anfangs nur nicht gewußt zu haben, wie er mich zu nehmen hat, ob ich als ein untertäniger Diener oder als ein selbständiger Mensch mich gegen ihn stellen werde. Ich habe mich gegen alle hiesigen Menschen unabhängig betragen, und nun ist mein Verhältnis gegen alle festgesetzt." -

Okens Stern war wirklich strahlend aufgegangen. Auch der Herzog Karl August, ein gebildeter und an Naturforschung interessierter Mann, fand Gefallen an dem originellen jungen Professor, lud ihn an den Hof ein und führte mit ihm vor allen Höflingen lange Gespräche, was Oken nicht wenig schmeichelte. Im Hochgefühl der herzoglichen Gunst beging er jedoch einen Fehler, der das Blatt bald wenden sollte. Er unterhielt sich mit dem Herzog auch über Universitätsangelegenheiten und schlug ihm vor, eine Reihe von naturwissenschaftlichen Kupferstichwerken aus der Weimarer Bibliothek nach Jena zu seinem Gebrauch verlagern zu lassen. Der Herzog erfüllte ihm diesen Wunsch. Damit war aber Goethe übergangen, der sowohl für die Universität als auch für die Weimarer Bibliothek verantwortlich war und außerdem selbst die Bildbände zu seiner eigenen Verfügung in Weimar haben wollte und deshalb höchst erzürnt war. Auch über die naturwissenschaftlichen Sammlungen kam es zu Auseinandersetzungen, die schließlich damit endeten, dass Goethe im Herbst 1809 die Beziehungen zu Oken abbrach, weil er ihn für "unerträglich" hielt. Er wolle persönlich "nie wieder ein Verhältnis zu ihm haben", schrieb er seinem Ministerkollegen von Voigt. Daran hielt sich Goethe für den Rest seines Lebens. Oken seinerseits bezeichnete Goethe in einem Brief als "eitlen Menschen", der verlange, "dass man sein Taglöhner sei".

Goethe und Oken waren beide sehr starke und dazu offensichtlich so unterschiedliche Charaktere, dass es auf Dauer keine Verständigung zwischen ihnen geben konnte. Fortan gingen sie sich wohl aus dem Weg.
Im Jahr 1816 mußte sich Goethe dann aber doch wieder mit Oken befassen, dienstlich, auf Wunsch des Herzogs. Anfang August dieses Jahres hatte Oken die neu eingeführte Pressefreiheit in Sachsen-Weimar benutzt, um eine naturwissenschaftlich-enzyklopädische Zeitschrift mit dem Namen "Isis" herauszugeben. In ihr verbreitete er auf provozierende Weise politisch höchst liberale Ideen, so dass Forderungen nach Verbot der "Isis" laut wurden. Karl August, inzwischen Großherzog geworden, bat daher Goethe um ein Gutachten über die Zeitschrift. Goethe bezeichnet in seinem Gutachten Oken als "einen Mann von Geist, von Kenntnissen, von Verdienst", und er bestätigt ihm, "dass er immer noch verdient, in der Wissenschaft eine glänzende Rolle zu spielen"; daneben erkennt er aber in Oken einen "revolutionären Geist" und "bei allen seinen Vorzügen einen partiellen Wahnsinn".

Goethe glaubt daher, dass man mit Drohungen bei Oken keine Änderung bewirken würde, denn: "Würde man wohl einem Mohren bei Strafe aufgeben, sich weiß zu waschen?" Mit dieser Einschätzung hat Goethe die Hartnäckigkeit Okens wohl richtig erfaßt. Er schlägt dem Großherzog vor, das Blatt sogleich zu verbieten. Doch der Großherzog folgte diesem Rat nicht. Oken konnte also weiter seine in ganz Deutschland verbreitete Zeitschrift erscheinen lassen. Er benutzte dies leider auch dazu, 1817 in der "Isis" eine sehr gehässige (und alberne) britische Kritik von Goethes Selbstbiographie "Dichtung und Wahrheit" zu veröffentlichen, mit dem er sich anscheinend an Goethe dafür rächen wollte, dass dieser ihn ignorierte. Als 1819 der ausländische Druck gegen die "Isis" zu groß wurde, stellte Großherzog Karl August Oken vor die Alternative, entweder die "Isis" oder seine Professur aufzugeben. Wie bekannt, hatte Oken die Charakterstärke, lieber auf die Professur, seine Existenzgrundlage, zu verzichten, als sich zur Aufgabe der "Isis" zwingen zu lassen. An anderen Orten gab er sie noch bis 1848 heraus.

Davon profitierte neben vielen anderen übrigens auch - Goethe. Denn um die neuesten naturwissenschaftlichen Aufsätze lesen zu können, mußte er wohl oder übel zur "Isis" greifen. Das tat er denn auch, wie seine eigenen Tagebuch-Einträge belegen. Freilich hat dies seine persönliche Antipathie gegen Oken nicht verändert. Aber auch Oken blieb ihm in dieser Hinsicht nichts schuldig. Beide haben sich, insgesamt gesehen, gegeneinander wenig vorbildlich benommen. Auch bedeutende Menschen haben ihre Schwächen. Goethe hat dies sehr wohl gewußt und es auch in einem Gespräch von 1812 eingestanden, als er bemerkte: "Größere Menschen haben nur ein größeres Volumen; Tugenden und Fehler haben sie mit den mindesten gemeinsam, nur in größerer Qualität. Das Verhältnis kann dasselbe sein."
Wenn Oken in Jena, abgesehen von einer kurzen Phase zu Beginn, durch Goethe keine Unterstützung fand, so muß man es um so mehr bewundern, wie er sich dort behauptete, wie er sich zuerst durch seine Lehrtätigkeit und dann nach seiner Entlassung von 1819 bis 1827 durch die Veröffentlichung wichtiger Werke und seiner Zeitschrift "Isis" als Wissenschaftler und als Vorkämpfer liberaler Ideen Ansehen und Ruhm in ganz Deutschland und darüber hinaus erkämpfte.

 


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